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Operation „Morning Light“

Hintergrundartikel

Logo der Operation Morning LightVon den zigtausenden Objekten im Erdorbit bedeuten die wenigen Dutzend mit einem Kernreaktor an Bord langfristig wohl die größte Gefahr für die Bevölkerung der Erde. Das Risiko, tatsächlich von einem Trümmerstück eines abstürzenden Satelliten getroffen zu werden, ist zwar verschwindend gering. Doch selbst die Radioaktivität eines solch kleinen Reaktors, wir er seit den 1970er Jahren an Bord von sowjetischen Aufklärungssatelliten eingesetzt wurde, hat das Potential große Flächen zu verseuchen. Zwar hatten die Konstrukteure dieser Satelliten und ihrer Bordsysteme vielfältige Sicherungsmechanismen vorgesehen, die den unkontrollierten Wiedereintritt eines solchen Satelliten in die Atmosphäre verhindern sollten. Doch im Januar 1974 trat der Ernstfall ein. Und dieser führte zu einer ernsten internationalen Krise.
Kosmos 954 war am 18.09.1977 mit einer Zyklon-​2 11K69 vom Kosmodrom Baikonur gestartet worden. Wie alle Satelliten des Typs US-​A (Abk. von russ. Управляемый Спутник Активный) diente er der Aufklärung der amerikanischen Flugzeugträgerverbände. Mit ihrer gewaltigen militärischen Schlagkraft stellten sie für die Sowjetunion ein ständige militärische Bedrohung dar und durften keinesfalls aus den Augen verloren werden. Diese beweglichen Ziele auf den Weltmeeren im Auge zu behalten, war aber eine erhebliche Herausforderung. Trotz der Größe der Schiffsverbände. Zwar hatte man eine Reihe von Waffensystemen entwickelt, die durchaus in der Lage waren, selbst einen über 300 m langen Flugzeugträger zu versenken. Doch benötigten diese möglichst präzise Zielkoordinaten. Für diese Aufgabe wurde das System „Legenda“ (russ. МКРЦ „Легенда“) geschaffen. Es umfaßte u.a. die mit einem aktiven Radar ausgestatteten US-​A Satelliten und die passiv arbeitenden US-​P Satelliten, die zur Lokalisierung der Schiffsverbände deren Radioemissionen auffingen. Für eine möglichst engmaschige Überwachung der Weltmeere wäre der gleichzeitige koordinierte Einsatz mehrerer Satelliten beider Typen erforderlich gewesen. In der Praxis kam es aber immer wieder zu vorzeitigen Ausfällen der hochkomplexen Satelliten, so daß das System nur selten seine Leistungsfähigkeit tatsächlich unter Beweis stellen konnte. Kosmos 954 hatte immerhin einige Wochen erfolgreich operiert, bis Anfang Oktober 1977 sogar im Verbund mit Kosmos 952, einem weiteren Satelliten des US-​A Typs. Kosmos 952 hatte mit nur 21 Tagen operativen Betriebs zwar klar das Designziel verfehlt und war vorzeitig ausgefallen. Doch immerhin konnte der Reaktor danach planmäßig gesichert werden. US-A SatellitDie Sicherheitsmaßnahmen griffen, was bedeutete, daß nach dem Ende der Mission der Reaktorblock abgetrennt und auf eine höhere Bahn (in über 900 km Höhe) angehoben wurde. Kosmos 954 vollführte sein letztes Bahnmanöver nach westlichen Beobachtungen am 31.10.1977. Doch bei ihm blieb die Bahnanhebung des Reaktorblocks aus. Vermutlich ging der Kontakt zu dem Satelliten vollständig verloren. An Bord mußte es zu einer schweren Fehlfunktion gekommen sein. Denn verschiedene Notfallsysteme sollten den Sicherungsmechanismus auch automatisch auslösen, sobald z.B. regelmäßige Kommandos ausblieben oder Sensoren ein Absinken der Bahn bis auf eine kritische Bahnhöhe registrierten. Bei einem Arbeitsorbit von etwa 250 km war diese Schwelle ohne Bahnkorrekturen in der Regel rasch erreicht. Doch Mitte Dezember schwanden in Moskau die letzten Hoffnungen auf einen glücklichen Ausgang des Unternehmens, als die Bahn weiter absank, ohne daß der Satellit eine Reaktion zeigte. Im Kontrollzentrum der Streitkräfte wurde daraufhin eine kontinuierliche Überwachung des toten Satelliten etabliert. Gleichzeitig kam es zu Krisensitzungen des Politbüros, wo man die internationalen Auswirkungen des sich anbahnenden Zwischenfalls fürchtete. Die Designer des Reaktors konnten zwar eine nukleare Explosion ausschließen, wie weit sich allerdings radioaktives Material in der Atmosphäre und darüberhinaus am Boden ausbreiten würde, konnten auch sie nicht vorhersagen. Einzig der Termin für den Wiedereintritt ließ sich zunehmend sicher vorausbestimmen. Und damit auch der Wiedereintrittspunkt. Damit war auch klar, daß man diesmal nicht das Glück haben würde, daß der Satellit einfach ins Meer stürzen würde. Am 25.04.1973  war genau das nach einem mißglückten Start passiert. Damals stürzte der Satellit in den Pazifik, offenbar ohne daß nennenswerte Radioaktivität freigesetzt wurde.
Nachdem sich die US Geheimdienste anfangs nicht sicher waren, welche Aufgabe die ab Ende der 1960er Jahre erprobten neuartigen US-​A und US-​P Satelliten erfüllten, kam man bald zu einer zutreffenden Einschätzung. Dementsprechend wurden ihre Flüge auch genau verfolgt. Die Probleme mit Kosmos 954 blieben dem Militär also nicht verborgen. Dennoch rechnete man anfangs noch mit einigen Monaten bis zum tatsächlichen Wiedereintritt. Ab dem 06.01.1978 spitzte sich die Situation aber weiter zu, als es offenbar zur Enthermetisierung der Satellitenzelle kam und der Satellit zu taumeln begann. Nun sank die Bahn von Kosmos 954 immer schneller ab. Doch noch immer gab es seitens der Sowjetunion keine offizielle Stellungnahme, obwohl in den internationalen Presse bereits über den außer Kontrolle geratenen Satelliten spekuliert wurde. Am 12.01.1978 wurde der sowjetische Botschafter ins Weiße Haus einbestellt. Doch auch er konnte nur wenige neue Informationen zur Situation geben. Erst eine Woche vor dem erwarteten Wiedereintrittstermin wurden die sowjetische Bevölkerung und die internationale Presse informiert. Auch die Tatsache, daß sich radioaktives Material an Bord befand, wurde nun öffentlich gemacht.
die Besatzung einer C-130H vor ihrer Maschine während Operation „Morning Light“Als sich abzeichnete, daß Kosmos 954 über Nordamerika niedergehen würde, bereiteten sich kanadische und US amerikanische Expertenteams auf den Ernstfall vor. Letzte Berechnungen hatten ergeben, daß die Wahrscheinlichkeit für einen Absturz über Land zwischen Kanada und Mexiko recht hoch war. Offiziell bestand die Aufgabe der Experten darin, eine mögliche radioaktive Kontamination einzudämmen und Gefahren für die Umwelt und die Bevölkerung zu minimieren. Katastrophenschutz also. Tatsächlich hatten aber auch die US Geheimdienste ein großes Interesse an jedweden Informationen über die geheimnisvollen Satelliten, im Englischen RORSAT (Radar Ocean Reconnaissance Satellite) genannt. Dementsprechend beteiligten auch sie sich an der Operation. Selbst Messungen der Radioaktivität konnten schließlich Hinweise auf die Konstruktion des Reaktors liefern. Während man also einerseits die Bevölkerung zu beruhigen suchte, hielten sich andererseits Experten bereit, die Geheimnisse von Kosmos 954 zu ergründen. Seit dem 22.01.1978 standen mehrere mit Spezialausrüstungen beladene Lockheed C-​141  „Starlifter“ Transportmaschinen abflugbereit auf US Luftwaffenstützpunkten. Kurz nachdem der Satellit am 24.01.1978 von den Radarschirmen des NORAD verschwunden war, trafen erste Meldungen aus der Region um das kanadische Yellowknife ein, wo Anwohner einen „Meteorschauer“ beobachtet hatten. Damit war klar, wo in etwa die Suche nach Kosmos 954 starten mußte. Unmittelbar darauf begann ein Flotte von abgesperrtes verseuchtes Areal nahe YellowknifeFlugzeugen und Hubschraubern, unterstützt von zahllosen Kräften am Boden, mit der Suche nach seinen Trümmern. Operation „Morning Light“ war angelaufen. In Phase I (vom 24.01.-20.04.1978) und nochmal in Phase II (21.04.-15.10.1978) wurde ein riesiges Gebiet der kanadischen Nordwestterritorien, Albertas und Saskatchewans abgesucht. Insgesamt über 124.000 km². Gefunden wurden dabei (offiziell) zwölf größere Trümmerstücke. Bis auf zwei waren sie tatsächlich radioaktiv. Eines strahlte mit der letalen Dosis von 5 Sv pro Stunde. Für die Geheimdienstler waren vor allem mehrere Zylinder und Stangen aus Beryllium interessant, Einsatztrupp mit Geigerzählern während Operation „Morning Light“Bestandteile des Reaktors. Der größte Teil des Materials ging jedoch fein verteilt über den Weiten Kanadas nieder. Es erwies sich als praktisch unmöglich, diese erhöhte Strahlung angesichts der bekanntermaßen hohen natürlichen Strahlung in der Region überhaupt zu messen. Ironischerweise lag die Bergbaustadt Uranium City inmitten der Suchzone! Lediglich auf zugefrorenen Gewässern gelang wiederholt der Nachweis höherer Radioaktivität. Hier wurden auch Tropfen geschmolzenen und wieder erstarrten radioaktiven Materials aus dem Reaktorkern gesichert. Für die Messungen wurden zunächst speziell ausgerüstete Lockheed C-​130  „Hercules“ Transportmaschinen eingesetzt, die in etwa 900 m Höhe ein festgelegtes Suchmuster flogen. War ein „Hot Spot“ entdeckt, wurde per Funk ein CH-​135  „Twin Huey“ Hubschrauber angefordert, der mit empfindlicheren Instrumenten ausgestattet war. Hatte er die exakte Position des vermuteten radioaktiven Trümmerstücks lokalisiert, warf er eine farbige Markierung über der Stelle ab (es gab damals noch kein GPS!). das einzig nennenswerte, nichtradioaktive Trümmerstück von Kosmos 954Nun wurden Experten der Atomenergiebehörde eingeflogen, die sich zu Fuß der Stelle näherten und sie sicherten. Radioaktives Material und Schnee wurden in Behältnisse verfrachtet und nach Yellowknife ausgeflogen und später in Chalk River, Ontario deponiert. Allein bis zum 25.03.1978 waren im Rahmen der Operation „Morning Light“ 608 Flüge mit 13 verschiedenen Flugzeug– und Hubschraubertypen unternommen worden. Geschätzte 0,1% des radioaktiven Materials aus dem Reaktor von Kosmos 954 war tatsächlich geborgen worden. Trotz des gewaltigen Aufwands entdeckten ausgerechnet die Teilnehmer einer Arktis-​Expedition das erste größere Trümmerstück. Sie meldeten ihren Fund per Funk, woraufhin sie ebenso wie das Fundstück vom kandischen Militär ausgeflogen wurden. Nach einigen Tagen brachte auch die Suche per Flugzeug und Helikopter erste Erfolge. Für die unter winterlichen arktischen Bedingungen durchgeführte Operation berechnete die kanadische Regierung im März 1979 der Sowjetunion exakt 6.041.174,70 C$, was bei weitem nicht den tatsächlichen Kosten entsprach. Nach jahrelangen Geheimverhandlungen zahlte die Sowjetunion schließlich aus dem Haushalt der Marine etwa die Hälfte davon. Bis zuletzt wurde aber formal jedwede Verantwortung für Schäden durch Kosmos 954 abgelehnt.
 
Die Ursache des plötzlichen Versagens der Systeme von Kosmos 954 konnte offenbar nie aufgeklärt werden. Denkbare Szenarien gab es einige, doch der Mangel an Telemetriedaten ließ alles nur Spekulation bleiben. Einige Theorien nahmen allerdings schon kuriose Züge an. So erschien Jahre später in der „Prawda“ ein Artikel, wonach der Satellit ausgerechnet beim Überflug des australischen Raketentestgeländes Woomera ausgefallen war. Ursache demnach: amerikanische „Kampflaser“!
 
Die Entwicklung der Satelliten vom Typ US-​A ging auf Vorschläge aus dem OKB-​52  zurück. Wladimir N. Tschelomej war zu jener Zeit massiv darum bemüht, seinen Einfluß auf das sowjetische Raumfahrt– und Raketenprogramm auszuweiten. Obwohl er später als Sergej P. Koroljow in die Entwicklung eingestiegen war, stammten gerade von ihm einige der innovativsten Vorschläge. Und er verfügte über gute Kontakte zur sowjetischen Staats– und Parteiführung, beschäftigte er doch mit Sergej N. Chruschtschow den Sohn des damaligen Staats– und Parteichefs Nikita S. Chruschtschow in seinem Konstruktionsbüro. Die Resolution 420‑1741 des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR vom 06.03.1961 autorisierte die Arbeiten an dem neuen Satellitensystem. Und nur zehn Tage später wurde die Entwicklung des Kernreaktors zur Energieversorgung angewiesen. Nach der Entmachtung Chrutschows wurde die weitere Entwicklung dem Leningrader KB „Arsenal“ übertragen. Ende des Jahres flog dann ein erster Prototyp des Satelliten. Bis zum ersten Start mit einem funktionsfähigen BES-​5  „Buk“ Reaktor an Bord vergingen aber nochmals fast fünf Jahre. Kosmos 367 startete am 03.10.1970 und erreichte ohne Probleme den vorgesehenen Orbit. Doch nach der Inbetriebnahme des Reaktors vergingen nur 110 min, bis die Notabtrennung des Reaktorabteils ausgelöst werden mußte. Es drohte die unkontrollierte Kernschmelze. Die einwandfreie Funktion der Notfallmechanismen hatte eine Katastrophe eben noch abwenden können. Es folgte eine mehrjährige Erprobungsphase, in der immer wieder Verbesserungen am Design der Satelliten vorgenommen wurden. Die grundsätzliche Auslegung blieb jedoch unverändert. Mitte der 1970er Jahre konnten dann endlich die regulären Einsätze beginnen. Mit dem Ende der Sowjetunion lief zunächst das US-​A Programm aus, einige Zeit später auch das US-​P Programm. Die Reaktorkerne von knapp drei Dutzend US-​A Satelliten umkreisen jedoch noch immer die Erde. In einer Höhe von 900 km stellen Sie zunächst für die Bevölkerung keine unmittelbare Gefahr dar. Dennoch wird die Radioaktivität ihres Uran-​Kerns nicht abgeklungen sein, wenn sie sich in einigen hundert Jahren der Erde wieder gefährlich genähert haben werden. Schon jetzt verteilen einige von ihnen radioaktives Material in der Umlaufbahn. Bleibt zu hoffen, daß für dieses latente Problem eine Lösung gefunden werden kann, bevor es zu einer weiträumigen radioaktiven Kontamination kommt.